Zivilisation Essay
Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehre gern zurück
denn blieb´ ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück
(Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus)
Leitwort zum Essay von Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: (ders.), Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992 (Reclam), S. 141 – 154, hier S. 146. Leitwort von Benjamin.
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo ein Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, das sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Zivilisation und individuelle Freiheit
Viele Millionen Jahre dauerte es bis der Mensch eine Zivilisation entwickelte. Der einzelne Mensch wird mit seiner Geburt durch Regeln oder Rituale, wie z.B. die Taufe domestiziert und in gesellschaftliche Systeme und Strukturen eingebettet. Die Elterngeneration versucht stets, mit ihrem Wissen, ihren Kenntnissen und Fertigkeiten etc. ihn zu vereinnahmen. Wir alle werden trotz unserer individuellen Einmaligkeit sozusagen eine Kopie des Tradierten. Die Frage ist also, wo beginnt unser freier Handlungsspielraum und wo sind wir vorgeprägt. Die Weitergabe von Wissen und Kenntnissen sowie die Einbindung der Kinder durch die Eltern in Systeme oder Institutionen (Taufe, Schule, Armee etc.) sind also Fluch und Segen zugleich. Die meisten Systeme bieten dem Menschen zunächst eine Hilfe an, aber alle bestimmen sie über ihn.
Zur Freiheit verurteilt
Auf der anderen Seite bleibt der Mensch in bestimmten Phasen seines Lebens allein, er zweifelt, hat Angst, macht Gedanken und grübelt. In diesen Augenblicken wird er auf sich, auf sein Ich und sein Denken zurückgeworfen. Aus den unbegrenzten Möglichkeiten, die der Mensch gedanklich durchspielt, muss er aber immer wieder für sein Handeln bestimmte auswählen. Er muss sich entscheiden. Darin besteht seine Wahlfreiheit, letztlich die Freiheit seines Willens. Der Mensch ist also zur Freiheit verurteilt, verurteilt dazu ständig Entscheidungen zu treffen, deren Folgen er nicht im vollen Umfang absehen kann. Dieses Prinzip der Optionalität ist nicht mehr frei wählbar. Es ist eine anthropologische Konstante und gehört zum Menschsein dazu.
Überhöhungskultur
Wirft man nun einen Blick auf die moderne Arbeitswelt mit ihrer strengen Arbeitsteilung, Rationalisierung und Automatisierung lässt sich beobachten, dass alle Systeme durch gemeinschaftliches Handeln mehrerer am Prozess beteiligter Menschen zum Erfolg geführt werden. In allen Arten von Unternehmen und Firmen wird in Gruppen und Teams eine Überhöhungskultur entwickelt, die alle Teilnehmer arbeitsteilig motivieren soll. Überhöhung meint hierbei, dass Erfindungen, Innovation, Logistik und Dienstleistung am Kunden von einzelnen Menschen effektiv durchgeführt werden können. Wie die einzelne Biene, die zwar ihre Aufgabe erfüllt nicht um das Ganze weiß, so ist der einzelne Handelnde zwar hochmotiviert in seinem Handlungsfeld, ohne allerdings die Ziele des Gesamtsystems zu durchschauen. In diesem Sinn kann der Einzelne im Privaten zwar glücklich sein, aber auch er erkennt die negativen Folgen des sich immer mehr beschleunigenden Zivilisationsprozesses nicht. Diese Überhöhungskultur beeinflusst sein privates Handeln und Denken, weil sie alle Lebensbereiche durchdringt.
Der Einzelne in modernen Unternehmen
Unsere Unternehmenskultur verlangt also, dass sich die Teilnehmer ständig neue Ziele setzen und diese auch erreichen. Die Arbeitsteilung von Produktion sichert zwar Einkommen, beteiligt den Einzelnen aber nicht mehr an den Zielen der Produktion. Er steht diesen entfremdet gegenüber. Die Konsequenz ist das Aufhören des Denkens des Einzelnen. Das zweckrationale Denken ist also der Motor von Fortschritt und Innovation, aber es seine Grenzen, wenn es darum geht, die mittel- und langfristigen Folgen seines Handelns und des Handelns anderen zu durchschauen.
Zivilisationsfalle
Insofern sind die `zivilisierten Menschen´ in der Zivilisationsfalle gefangen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass junge Menschen mit Begeisterung am Zivilisationsprozess teilhaben möchten. Sie benutzen beispielsweise alle möglichen Formen der Kommunikation; sie twittern, chatten, mailen und sind insgesamt dem Zivilisationsprozess in vielen seiner Facetten gegenüber positiv eingestellt. Ihre Hauptmotive sind dabei in der Regel Wohlstandserwerb oder Wohlstandssicherung, sozialer Status bzw. gesellschaftliche Anerkennung, so wie es Maslow in seiner berühmten Pyramide visualisiert hat. Sind die Grundbedürfnisse befriedigt, strebt jeder Mensch nach sozialer Anerkennung und individueller Verwirklichung. Insofern wird jede Generation aufs Neue durch die Elterngeneration positiv in den Zivilisationsprozess eingebunden. Sie treibt ihn selbst mit voran und ist zugleich das Opfer der dabei entstehenden paradoxen, teilweise kalkulierbaren, teilweise unvorhersehbaren positiven und negativen Folgen.
Merkmale des Zivilisationsprozesses
Das Zivilisationsmanagement und die Kritik werden im Wesentlichen der Regierung, den Firmen, den verschiedenen sozialen Systemen und Umweltorganisationen zugeschrieben. Man erwartet von ihnen den Schutz der Jugend gegen die Überforderung und Überbordung durch die allzu rasant kapitalistisch agierenden Firmen, Banken und Institutionen. Ein weiteres Kennzeichen des jüngsten Zivilisationsprozesses ist, dass die tradierten Strukturen, demokratische oder kirchliche Institutionen und selbst das Konzept Nationalstaat zunehmend zerbröckeln. Das ist ein Grund für die um sich greifende Orientierungslosigkeit vieler junger und älterer Menschen in der postmodernen Gesellschaft.
Verhältnis Alt und Jung
Würde sich nun ein älterer Mensch mit einem jungen unterhalten, dann treten hier Abgeschlossenheit, Resignation und Rechtfertigung auf der einen Seite und Lebenswille, Dynamik und Im-Fluss-Sein auf der anderen Seite sich gegenüber. Deshalb wird der ältere Mensch als Selbstschutz seine Vergangenheit und den darin durchlebten Zivilisationsprozess verteidigen. Damit steckt er in dem Dilemma, erst beim Austritt aus seinem Berufsleben wirklich frei zu sein und kritisch gegenüber den ihn plagenden Jahren zu reflektieren. Deswegen wird er dem Jugendlichen eine Durchhaltephilosophie empfehlen, wobei er mit Eigenschaften wie Mut, Fairness, Glück, Humor etc. argumentieren. Darin besteht die eigentliche Kluft zwischen Alt und Jung: der Alte stellt dem Jungen sein festzementiertes Schicksal vor Augen, während der Junge gerade dabei ist, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen und einen Prozess vor Augen hat. Der Alte ist erstarrt, der Junge vibriert.
Der Einzelne als Teil des Zivilisationsprozesses
Der Einzelne ist also einerseits Teil und zugleich Mitverursacher dieses Zivilisationsprozesses. Dafür wird er bezahlt, dafür bringt er mittels seiner Arbeitskraft ein Teilsystem voran, während er anderen Teilsystemen wie Politik, Wirtschaft, Religion, Literatur, Kunst, etc. und deren Strukturen ausgeliefert ist. Dabei befindet sich der Mensch in einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen eigenen Wünschen und gesellschaftlichen Anpassungsdruck. Die Frage ist: Sind das überbaut noch eigene Wünsche oder sind diese nicht schon gesellschaftlich bedingt?
Unabsehbare und absehbare Folgen
Die Folgen menschlicher Erfindungen und Entwicklungen sind daher in der Neuzeit für den Einzelnen nicht mehr absehbar. Z.B. kann selbst der gebildete Laie nicht mehr einsehen, was im Zuge der Embryonalforschung in den Laboren vorgeht und welche Folgen das haben kann. Dabei hinkt also die Ethik der technischen Entwicklung und dem Fortschritt immer hinterher. Der Mensch neigt dazu, alles das zu tun, was er technisch in der Lage ist umzusetzen, ohne ernsthaft über die Folgen seines Handelns im Vorfeld nachzudenken. Deshalb muss er diese Folgen dann zusätzlich mit bewältigen.
Schere zwischen Arm und Reich
Auch die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich – die sich in der Aufteilung der Welt in Entwicklungs- und entwickelte Länder und (ii) der Teilung der Ersten Welt in (Super)reiche, Mittelstand und Arme manifestiert – ist ein weiteres typisches Merkmal des Zivilisationsprozesses. Diese Armut wird zunächst nicht wahrgenommen, solange man nicht selbst die Gefahren der Armut am eigenen Leibe spürt. Die Konflikte, die aus der Schere zwischen Arm und Reich erwachsen, scheinen solange nicht relevant zu sein, bis eine kritische Masse anfängt, sich gegen die negativen Folgen der Überhöhungskultur und des Zivilisationsprozesses zur Wehr zu setzen. Zivilisation brachte eben auch diese immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich hervor. In den Industrieländern ist die relative Armut, d.h. weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens, an der Tagesordnung genau wie in den Entwicklungsländern die absolute Armut, also weniger als ein Dollar pro Tag. In den westlichen Ländern stehen die Sozialsysteme am Rande der Überbeanspruchung, während die armen Länder der Dritten Welt die Folgen der von ihnen selbst nicht verursachten Umweltkatastrophen besonders hart zu spüren bekommen. Selbst einem olympischen Betrachter dieses Szenario käme ins Grübeln ob dieser Dynamiken.
Opfer der Zivilisation
Die Kraft der Armut ist nicht zu unterschätzen. Sie strebt nach oben. Diese Opfer der Zivilisation dürfen nicht vergessen werden. Sie können, wie es 1789 erstmalig geschah, zur Revolution aufrufen. Das heißt, wir als die Verantwortlichen des Zivilisationsprozesses müssen aufpassen, dass die Opfer nicht dauerhaft in der Opferrolle bleiben. Bei den Menschen, die nicht am Zivilisationsprozess teilhaben, wird der Widerstand größer. Die Geldverteilung findet immer mehr zugunsten der Reichen statt: Geld zieht Geld magisch an, während immer mehr klar wird, dass man durch ehrliche Arbeit nicht reich, sondern maximal satt werden kann.
Unbegrenztheit der Wünsche vs. Rohstoffknappheit
Der entscheidende Antrieb der Zivilisation sind die Konsumwünsche des Menschen. Die antike Philosophie gab darauf die Antwort der Askese bzw. Einschränkung aller Wünsche auf das Wesentliche. Diese Reduzierung hat man in der Neuzeit weitgehend vergessen. Heute erleben wir täglich neue Superlative. Dabei sind die Wünsche und Bedürfnisse unendlich, die zur Verfügung stehenden Mittel aber endlich und begrenzt. Längst hat ein globaler Kampf um die zur Neige gehenden Ressourcen in der Welt begonnen. Der Irak-Krieg z.B. ist eine Folge der Sucht nach Öl, das den amerikanischen Kapitalismus schmieren soll. Der Kapitalismus neigt zur Expansion, was seine weltweite Ausbreitung belegt. Auf der anderen Seite neigen viele Menschen dazu, Dinge, die sie nicht mehr brauchen oder die scheinbar verdorben sind, wegzuwerfen. Rohstoffknappheit und Rohstoffverschwendung sind die beiden Seiten dieser Medaille innerhalb dieser Phase des Zivilisationsprozesses.
Zivilisationsprobleme in der Wohlstandsgesellschaft
Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, in der jede grundlegende Systemkritik sogleich obsolet geworden ist, weil sie – von verschiedener Seite – eingebettet, erklärt und entschärft werden kann. Vielen Menschen suchen stattdessen einen Trost in der Natur: sie spazieren in Wäldern, überqueren Meere oder besteigen Berge, um sich auf diese Weise mit der ihn schon längst entfremdeten Natur ein Stück weit wieder zu versöhnen. Jeder, der samstags auf seine Datsche will, ist eigentlich auch ein Zivilisationskritiker; er verbalisiert es nur nicht, sondern genießt den Rest der noch heil gebliebenen Natur. Aber das ist nur Balsam auf Wunden, die doch immer wieder aufbrechen, weil die Folgen der Überhöhung und Arbeitsteilung für den einzelnen wie für die Gesamtgesellschaft unüberschaubar geworden sind. Wir in der ersten Welt, das darf dabei nicht vergessen werden, haben typische Zivilisationsprobleme, während Menschen in Sibirien oder auf Bali ganz andere Lösungsstrategien entwickeln müssen, um ein würdiges Leben zu führen. Gemeinsam ist uns allen, dass wir uns permanent entscheiden müssen.
Alleinstellungsmerkale des Westens
Zivilisation im Westen heißt schließlich auch Säkularisierung. War das Denken und Streben des mittelalterlichen Menschen letztlich auf das Jenseits ausgerichtet, so ist ein Kennzeichen der Moderne, dass Gott tot ist, dass Religion als Projektion entlarvt wurde. Der Mensch projiziert seine besten Eigenschaften auf ein nicht-existentes Wesen und nennt dieses Gott. Die meisten glauben nicht mehr an ein postmortales Schicksal, sie glauben nicht an Gottes Heimstatt. eimHeiDamit ist aber nicht nur die zweite, jenseitige Welt abgeschafft, sondern für die meisten von uns ist Gott tot, ein bloßes Menetekel an der Wand der Weltgeschichte. Deshalb hat man sich im Diesseits bestmöglich eingerichtet, auf Kosten der Umwelt, der Mitmenschen und der Natur. Besitz, Geld, jugendliches Aussehen sind deshalb die Symbole der postmodernen Zeit. Es lebe der Besitz und das Eigentum im Diesseits! Es gibt keinen strafenden oder liebenden Gott, unsere Handlungen haben, wenn wir sie hier und jetzt gut verschleiern können, keine jenseitigen Folgen. Das Kapital ist der eigentliche Gott! Er wird angebetet, ein gemeinsamer Kult wird um ihn den Börsen dieser Welt gebildet. Die Menschheit springt unosoni um das goldene Kalb des Kapitals und keiner bringt sie mit neuen Gesetzestafeln zur Vernunft!